Der Controller hat ausgespielt

Photo: Saskja Rosset

Wii war gestern: Die Zukunft des Gamens liegt in reinen Körperbewegungen oder Gedankenkraft - und in 3D
 

In die Hocke gehen, Schritt nach links, Drehung, springen. Haargenau kopiert die Spielfigur im TV meine Bewegungen und lenkt so das rote Gummiboot durch reissende Stromschnellen. Endlich am Ziel angelangt, bin ich ausser Atem, aber bester Laune. Die Bewegungssteuerung Kinect für Microsofts Xbox 360 lässt einen spielen, ohne dass man etwas in der Hand hält. Am Mittwoch kommt sie in die Läden. Bewegungssensoren sind aber nur eine der neuen Technologien, mit denen Sony und Co. unsere Spielfreude auffrischen wollen.

Vor eineinhalb Jahren wurde Kinect unter dem Codenamen «Project natal» erstmals vorgestellt: Damals mutete es Science-Fiction-mässig an: Computergames spielen, ganz ohne Controller, allein mittels Körperbewegungen und Stimme. Microsoft versprach damit, einen Traum wahr zu machen, den jeder Gamer schon mal geträumt hatte.

Möglich macht das jetzt ein schwarzes Kästchen, in dem eine Kombination aus Sensoren, Kameras und Mikrofonen steckt, die den Spieler nicht nur als Silhouette, sondern als Figur im Raum erfassen. 48 Körperpunkte scannt Kinect und registriert so kleinste Bewegungen, auch in der Tiefe.

Wir haben in diesen Tagen viel Zeit mit Kinect verbracht. Und wir haben andere beim Spielen beobachtet. Zuerst das zögerliche Vor-den-Sensor-Treten, auf Geheiss den Arm ausstrecken und starten. Dann ein breites Lachen: Es funktioniert. Und es ist mit nichts zuvor vergleichbar. Wenn man das erste Mal die Hand hebt und der Avatar im TV auch, ist das einfach ein Nervenkitzel.

Dann aber machen Autorennen in «Kinect Joy Ride» mit imaginärem Lenkrad auch Spass. Im Hindernisparcours «Kinect Adventures», durch den man die Spielfigur mit Hüpfen, Ducken und Zur-Seite-Springen schleust, kommt man ins Schnaufen. Beim Bowling («Kinect Sports») erkennt der Sensor unheimlich genau, ob wir die Hand abgedreht haben, und der kleine Tiger, den es in «Kinectimals» zu hegen gilt, wächst den Kleinsten sofort ans Herz. Es kommt zwar zu Mini-Verzögerungen zwischen unseren Bewegungen und der Realisierung auf dem Schirm, aber sie stören das Spielerlebnis nicht.

Kinect hat auch seine Tücken. So scheint der Sensor bei hellem Sonnenlicht die Spieler nicht gleich gut wahrzunehmen wie bei Kunstlicht. Und wenn mehrere Kids vor dem TV zappeln, kommt der Scanner ins Rotieren und versteht die Handbefehle nicht mehr. Spielen mit Kinect verlangt Disziplin: nicht zu nah, nicht zu weit weg stehen, warten, bis man an der Reihe, die Episode geladen ist. Das ist besonders für kleine Gamer nicht immer einfach. Die Spiele, die wir testen konnten, nutzen das Potenzial der neuen Schnittstelle erst im Ansatz aus. Die Spielideen sind leider von Nintendos Wii-Konsole sattsam bekannt: Party-, Fitness- und Sportspiele. Andererseits braucht es bei neuen Systemen immer seine Zeit, bis die Entwickler aus dem Vollen schöpfen können.

Das war auch 2006 so, als Nintendo mit der Wii-Konsole und dem ersten Controller mit Bewegungssensor den Boom der Hampelspiele auslöste. Vier Jahre später will sich jetzt auch Microsoft vom Geschäft mit den Gelegenheitsspielern etwas abschneiden. Das Marktforschungsinstitut IDC sagt voraus, dass Kinect sich allein in den USA im 4. Quartal 2,5 bis 3 Millionen Mal verkaufen könnte. Microsoft selbst will bis Ende Jahr weltweit fünf, in Europa zwei Millionen abgesetzt haben.

Erst seit September mischt auch Sony mit dem Move-Controller für die Playstation in diesem Markt mit. Das ist unverständlich spät, denn die Japaner hätten zuvorderst sein können: Bereits vor sieben Jahren führten sie mit Eye Toy nämlich eines der visionärsten Gaming-Produkte ein, das eigentlich schon so funktionierte wie die Xbox Kinect: durch Kameraerfassung. Als Nintendo aber die Wii ins Feld führte, stellte Sony die Eye-Toy-Spiele ein.

Nebst den Bewegungssensoren soll 3-D frischen Wind in die Spielewelt bringen. Besonders Sony setzt darauf. Die PS3 kann mit einem Update bereits heute Spiele in Stereoskopie ausgeben. Noch ist das 3-D-Erlebnis aber nur mit 3-D-Brillen zu haben.

Nintendo will das ändern: Im März kommt die neue tragbare Konsole 3DS in den Handel und wird räumliches Sehen bieten - ohne Brille. Ein feiner Raster und ein spezieller Flüssigkristall-Bildschirm machen es möglich - vorausgesetzt, man schaut im richtigen Winkel auf die Bildfläche. «Der 3DS ist ein gewagtes Unternehmen, weil es gemeinsames, bei Jugendlichen verbreitetes Spielen ausschliesst», sagt René Bauer, Dozent für Gamedesign an der Zürcher Hochschule der Künste. Leider gibt es bisher nur Prototypen, sodass wir das Wunder nicht testen konnten.

Schon länger marktreif ist dafür das Mindset der US-Firma Neurosky. Es ist die Antithese zur Hampelei und verspricht, Spiele allein durch Gedankenkraft zu steuern. Wie kauften den Gedankenleser online für 150 Euro. Er sieht aus wie ein gewöhnlicher Kopfhörer, hat aber in der linken Ohrmuschel drei silberne Plättchen angebracht. Mit einem beweglichen Bügel wird ein zusätzlicher Kontakt auf der Stirn platziert. Testen konnten wir das System leider nicht, weil die Funkverbindung mit dem PC nicht zustande kam.

Ausprobiert hat es dagegen der Hirnforscher José del R. Millán von der ETH Lausanne: «Hätte es funktioniert, würde ich jetzt nicht mehr mein normales EEG verwenden, weil Mindset viel günstiger ist.» Millán vermutet, dass Mindset die Bewegung der Augenbrauen messe, weniger die Hirnstrom-Aktivität. Das seien erste Versuche, die aber mit etwas Investition schnell besser werden könnten.

Das gilt auch für Cloud Gaming - das Spielen in der Datenwolke. Es gibt derzeit etwa sechs Dienste, die in diesen neuen Markt drängen. Am meisten Furore machte bisher Onlive, der in den USA im Juni startete. Das Prinzip: Nur die Eingabebefehle der Spieler und die Grafik werden via Internet übertragen, die Spiele selbst laufen auf Servern. Derzeit arbeitet Onlive auch an einer Minikonsole, die die Games direkt auf den TV holen.

Der grösste Vorteil des Dienstes: Man muss nicht ständig seinen PC aufrüsten und kann von überall auch rechenintensive Shooter spielen - sogar mit dem iPad. Dafür kauft der Spieler nur ein Nutzungsrecht; er wird nie ein Game besitzen. Das könnte laut Bauer zur Krux werden: «Die Leute haben einfach gern etwas in der Hand, das ihnen gehört.»

Bauer bezweifelt auch, dass sich das Rumgehampel in der Stube etablieren kann: «In kurzen Freizeitspässen kann Kinect funktionieren. Aber niemand wird damit über lange Zeit spielen. Der Sensor reagiert auf ausladende, kraftraubende Bewegungen - wir würden alle zu Bodybuildern.»

Sicher ist: Das System hat auch jenseits der Unterhaltung Bedeutung. Es ist der erste Vorstoss in Richtung «natürliche» Bedienung von Geräten. Microsoft will das Know-how künftig auch in Handys oder PCs unterbringen. Aber das Potenzial von Kinect gehe noch weiter, sagt der Gaming-Spezialist Bruno Beusch, Geschäftsführer der Agentur TNC-Network für neue Kommunikationstechnologien in Paris. «Ob im Werbebusiness oder in der Autoindustrie - die Steuerung durch Gestik, Mimik und unsere Stimme wird zahlreiche neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnen.»

 

Erschienen am 7.11. 2010 in der SonntagsZeitung (PDF Seite 1).

(PDF Seite 2)